Die Lernumgebung ‚Modellieren mit Mathe' ermöglicht es Schülerinnen und Schülern ein von ihnen gewähltes Thema im Rahmen eines ganz persönliche Lernweges zu erschließen. Belehren im klassischen Sinne wird abgelöst durch Lernen als ein von den Schülerinnen und Schülern selbstgesteuerter Prozess. Diese begeben sich auf ein für sie unbekanntes Terrain und erhalten dort statt einer Wegbeschreibung Angebote, Möglichkeiten, Material und die freundliche Aufforderung, den für sie optimalen Lernweg selbst zu erforschen und auszuprobieren. Dies vor dem Hintergrund, dass Wege, die man für sich selbst erkundet und zurückgelegt hat, auch noch viel später wieder leicht nachzuvollziehen sind.
Zusätzlich ergibt sich in der Regel ein erweitertes Methodenwissen, was bei weiteren gedanklichen Expeditionen ins Unbekannte sicherlich hilfreich ist. Zuständigkeiten und damit auch Verantwortlichkeiten verändern sich. Konnten und sollten sich Schülerinnen und Schüler bisher auf die gute Orientierungsfähigkeit der Lehrerin oder des Lehrers in dem zu erforschenden Gebiet verlassen, so sind sie nun aufgefordert, selbst einen für sie gangbaren Lernweg zu finden. Lag die Verantwortung für die sichere Durchquerung des unbekannten Landes bisher bei der Lehrerin oder dem Lehrer (der folglich eigene (Irr-)Wege der Schülerinnen und Schüler eher als störend empfinden musste), liegt diese Verantwortung nun bei der Schülerin / dem Schüler selbst.
Es ist somit nach Strategien zu suchen, die es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, diese Verantwortlichkeit in einer für sie gewinnbringenden Weise wahrzunehmen. Hierzu gehört vor allem die Gewährleistung von Nachvollziehbarkeit und Klarheit über die im Verlauf der Lösungsfindung getroffenen Richtungsentscheidungen, denn dies erleichtert im Falle eines Irrweges die Wahl einer Alternativroute. So bietet sich die Dokumentation aller durchgeführten Überlegungen, Eindrücke, Entscheidungen und Pläne im Rahmen eines Lerntagebuches an.
Eine (Lern-)Wegdokumentation, die Schülerinnen und Schülern nicht nur eine ständige Möglichkeit der Standortbestimmung und Orientierung bietet, sondern auch auf vielfältigste Weise zur Kommunikation über das Erlernte mit anderen Schülerinnen und Schülern einlädt. Gerade dieses Moment des Austausches über das Erlernte vermag dann eine Option auf Festigung und Transfermöglichkeiten des Neuen zu sichern.
Hierzu hält die Lernumgebung ‚Modellieren mit Mathe' im Rahmen des Forums einen Marktplatz für den ungefilterten Austausch von Problemstellungen und Informationen bereit, der überdies in der Lage ist, schon Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe ein wesentliches Paradigma wissenschaftlicher Arbeit - nämlich eben deren Kommunizierbarkeit - auf sehr anschauliche Weise zu vermitteln.
Das Lerntagebuch war schon einige Wochen vorher vorgestellt und erläutert worden. (Siehe hierzu "Muster eines Lerntagebuches").
Mit den Schülerinnen und Schülern war zu Beginn der Unterrichtsreihe vereinbart worden, dass neben der Präsentation der erarbeiteten Unterrichtsergebnisse das Lerntagebuch einen wesentlichen Teil der Abschlussbewertung bilden würde. Beides sollte zu einem festgelegten Zeitpunkt in Form einer Mappe abgeliefert werden. Der hierfür erzielten Note sollte das gleiche Gewicht wie der für eine Klassenarbeit zukommen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Reproduktion der vorgenommenen Arbeitsschritte den meisten Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Unterrichtssequenz immer müheloser gelang. Dabei zeigten sich allerdings häufig Mängel in der Detailtreue bzw. der Genauigkeit der Darstellung. Gedankenlinien, die oft den Hintergrund für bestimmte Entscheidungen darstellten, wurden häufig ausgespart, so dass der eben beschriebene Verwertungsaspekt des Lerntagebuchs als Begutachtungshilfe für den eigenen Lernprozess noch zu kurz kam.
Hier ein typischer Ausschnitt aus einem der Lerntagebücher:
Thema der Woche: Das Arbeiten mit EXCEL. Dies hat mir besonders Spaß gemacht.
Donnerstag: Wir haben geklärt, wie man zum Thema ‚Handys und Geldsorgen' Tabellen gestalten kann.
Freitag: Wir haben heute Material aus dem Internet beschafft.
Thema der Woche: Das Arbeiten mit Tarifen und Tabellen
Donnerstag:Wir haben heute Tarife aus dem Internet gesucht und gedruckt.
Freitag: Wir haben heute die Tarife aus dem Internet zu einer grafischen Darstellung verarbeitet.
Ein weiterer Eintrag einer Schülerin soll die Schwierigkeit, sich auf die Einschätzung des eigenen Lernfortschritts einzulassen, deutlich machen.
In dieser sowie in der vergangenen Woche gefiel mir das Matheprojekt, an dem wir gemeinsam arbeiten, am besten. Man lernt auch mehr über Programme und Formeln.
Durch die Wahl des unpersönlichen "man" bezieht sich die Schülerin auf eine Einschätzung des möglichen Gewinns für die ganze Gruppe und damit nur mittelbar auf sich selbst. Für die weitere Arbeit mit dem Lerntagebuch als Wegbegleiter ist es also ratsam, nach Strategien zu suchen, die die Entwicklung einer selbstkritischen Sicht des eigenen Vorgehens unterstützen. Hierbei ist darauf zu achten, dass das eigentliche Vorhaben, also das von den Schülerinnen und Schülern zur Erforschung ausgewählte Thema nicht gegenüber der Reflexion über den eingeschlagenen Weg zu sehr in den Hintergrund gerät.
Eine sehr sinnvolle Unterstützung findet das hier vorgetragene Anliegen in der durch die Lernumgebung ‚Modellieren mit Mathe' bereitgestellte Möglichkeit, seine eigenen Arbeitsergebnisse, Fragen, Probleme, Tipps und Hilfen mit anderen Schülerinnen und Schülern, die an demselben Thema arbeiten, über das Forum auszutauschen.
So lauteten dann auch die den Schülerinnen und Schülern vorgeschlagenen Arbeitsschritte:
- Wir entscheiden uns für ein Thema.
- Wir schreiben Fragen zu diesem Thema auf.
- Wir entscheiden uns für die wichtigsten Fragen zu diesem Thema.
- Wir geben uns einen Gruppennamen und überlegen uns einen Vorstellungstext.
- Wir stellen uns mit unserem Vorstellungstext und den Fragen im Forum vor.
Hier Auszüge aus einem Internetdialog zweier Schülerinnengruppen, die dasselbe Thema bearbeiteten:
Betreff: Wenn sich Gerüchte ausbreiten
geschrieben von NeleundTina am 08.11.02 08:29
Hallo! Wir sind Nele und Tina von der Gesamtschule Wulfen, Klasse 8.1. Unser Thema sind Gerüchte. Wir hoffen, dass aus einer langweiligen Mathestunde ein einigermaßen interessantes Thema entsteht.
Betreff: "Wir machen mit"
geschrieben von Sarah, Caro, Biggi, Verry 4a Päd. Gym. Bruneck am 06.11.02 12:20
Hallo! Wir sind vier Nicht-Mathe-Genies, bemühen uns aber trotzdem, euch eine knifflige Mathe-Aufgabe zu stellen. Unser Thema? Gerüchte!! Wir melden uns wieder!
Betreff Re: "Wir machen mit!"
geschrieben von NeleundTina am 08.11.02 08:39
hallo ihr alle! habt ihr schon was rausgefunden? Wir haben zwar erst eine Frage, aber ihr könnt euch ja mal damit beschäftigen: Warum verändert sich jede Nachricht, bei jeder Person, die sie hört und weitergibt? CU Nele und Christina
Betreff Re: "Wenn sich Gerüchte ausbreiten"
geschrieben von Caro, Biggi, Verry, Sarah am 14.11.02 10:20
Hi Nele und Christina! Warum sich jede Nachricht bei jeder Person, die sie hört und weitergibt, verändert? Ganz klar: man müsste jede Aussage wortwörtlich wiedergeben, da eine andere Wortwahl die Nachricht sofort verfälschen kann. Um die Nachricht interessanter zu machen oder sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, wird die Nachricht auch oft absichtlich verfälscht. Was sagt ihr zu dieser Antwort?
Betreff Re: "Wenn sich Gerüchte ausbreiten"
geschrieben von NeleundTina am 15.11.02 08:13
hallo ihr vier Dankeschön für die Antwort. Ihr habt doch auch Fragen, die ihr beantwortet haben möchtet. CU u.s.w.
In diesem Dialog erkennen wir erste Ansätze der gegenseitigen Bezugnahme und Unterstützung. Derartige Situationen ergaben sich innerhalb des Kurses allerdings noch nicht sehr häufig, obwohl alle Arbeitsgruppen sehr gerne das Forum zur Vorstellung ihrer Gruppe und ihres Anliegens nutzten.
Dabei ergab sich jedoch ein anderer Wichtiger Aspekt und forderte eine intensive Diskussion und Standortsetzung heraus. Die Einhaltung gewisser sprachlicher sowie zwischenmenschlicher Standards bezüglich Forum und Inhalt der im Forum veröffentlichten Beiträge ergab sich zwangsweise, nachdem die ersten unbrauchbaren und von ihrer Diktion her schlicht inakzeptablen Beiträge gesichtet wurden. Den Schülerinnen und Schülern wurde schnell klar, dass auch für die Kommunikation in diesem neuen Medium die Vereinbarung gewisser Regeln bezüglich Form und Inhalt unabdingbar ist.
Dieser Klärungsprozess kann im nachhinein für die Einschätzung des Internets als mögliche Arbeitsplattform im Rahmen von weiteren Lern- und Arbeitsprojekten in der Zukunft als durchaus positiv gewertet werden. Für die Schülerinnen und Schüler erhielt hierdurch das Netz eine neue Bedeutung. Es ist nicht mehr nur Spiel- und Tauschbörse, sondern bietet vielfältigste Kommunikationsmöglichkeiten, für deren gewinnbringende Nutzung gewisse Verhaltensregeln unabdingbar sind.
Insgesamt hat mich diese erste Erfahrung mit den unterschiedlichen Formen selbstbestimmten Lernens im Mathematikunterricht durchaus ermutigt, derartige Lern- und Arbeitsszenarien für den Unterricht weiter zu nutzen. Gerade dann, wenn sich eine gewisse Routine im Umgang im Umgang mit den vorgestellten neuen Lernbegleitern - als dem Lerntagebuch und dem Kommunikationsforum im Internet - einstellt, werden Erwartungen, die beim ersten Durchgang möglicherweise nur ansatzweise erfüllt wurden, sicherlich deutlicher und nachhaltiger erfüllt.
Für das Lerntagebuch bietet sich dabei aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten eine Form an, die das, was inhaltlich erarbeitet wurde, deutlicher mit der Reflexion des eigenen Lernweges verbindet. Dabei würde die erneute Darstellung in Form eines Tagebuches überflüssig. Denkbar wäre etwa eine Kombination aus Prozessanalyse und Produktpräsentation auf jeweils einer Doppelseite. Parallel zur Darstellung des Erarbeiteten könnte auf der gegenüberliegenden Seite Fragen aus dem Lerntagebuch (s. o.) erörtert werden. Beziehen diese sich inhaltlich auf das Sachthema, könnten sie im Online-Kommunikationsforum veröffentlicht werden. Die eingegangenen Diskussionsbeiträge könnten dann wieder ein Teil des Lernberichts werden.
Eine solche Wechselbeziehung zwischen Lerninhalt und Lernprozess macht im Zusammenhang mit einer offenen Problemstellung, für die sich Schülerinnen und Schüler etwa im Projektunterricht oder im Rahmen einer Lernumgebung wie ‚Modellieren mit Mathe' selbst entscheiden, besonders viel Sinn. Gerade hier in dem Zusammenspiel von einem attraktiven, schülergemäßen Themenangebot, der Reflexion des eigenen Vorgehens im Rahmen eines Lernberichts oder Logbuchs und der einfachen Möglichkeit der Online-Kommunikation über das Erreichte, ergibt sich die Chance, dem Anspruch eines veränderten Lernbegriffs besonders gerecht zu werden.
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