Das Herzenhören
Jan Philipp Sendker
Verlag:
Goldmann
2004
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Autor:
Jan Philipp Sendker
Kategorie: Freundschaft & Liebe
Der Vater Julia Twins ist plötzlich verschwunden, ein gefundener Liebesbrief von ihm an eine Unbekannte führt Julia nach Burma. Dort erfährt sie tiefe Geheimnisse, die sie weit in Emotionen und bis in die Mystik führen.
Empfehlung:
Dieses Buch ist mein absolutes Lieblingsbuch, gemeinsam mit dem zweiten Teil "Die Herzenstimmen". Die Geschichte zeugt von tiefen Gefühlen und einem leichten Hauch asiatischen Flair. Ebenso hat das Buch etwas Beruhigendes an sich, was nicht bedeutet es enthalte keine Spannung, von wegen! Ich empfehle dieses Buch gerne weiter, besonders an diejenigen die gerne Liebesromane lesen, aber eben auch die, die das nicht tun, denn dieses Buch ist einfach lesenswert. Der Klappentext scheint vielleicht nicht so zu überzeugen, trotzdem ist es ein wunderschönes und fabelhaftes Buch, welches einen gerne in seinen Bann zieht.
Leseprobe
Seine Augen waren mir als Erstes aufgefallen. Sie lagen tief in
ihren Höhlen, und es war, als könne er den Blick nicht von mir
lassen. Alle Gäste des Teehauses starrten mich mehr oder weniger
unverhohlen an, aber er war der aufdringlichste. Als wäre
ich ein exotisches Wesen, eines, das er zum ersten Mal sieht.
Sein Alter konnte ich schlecht schätzen. Sein Gesicht war voller
Falten, sechzig war er mit Sicherheit, vielleicht schon siebzig.
Er trug ein vergilbtes weißes Hemd, einen grünen Longy und
Gummisandalen. Ich versuchte ihn zu ignorieren und blickte
mich im Teehaus um, einer Bretterbude mit ein paar Tischen
und Hockern,die auf der trockenen,staubigen Erde standen.An
einer Wand hingen alte Kalenderblätter, die junge Frauen zeigten.
Ihre Gewänder reichten bis auf den Boden, und mit ihren
langärmeligen Blusen,den hochgeschlossenen Kragen und ihren
ernsten Gesichtern erinnerten sie mich an alte, handcolorierte
Fotos von Töchtern aus gutem Hause um die Jahrhundertwende,
wie man sie auf Flohmärkten in New York finden
konnte. An der Wand gegenüber befand sich eine Vitrine mit
Keksen und Reiskuchen, auf denen sich Dutzende von Fliegen
niedergelassen hatten. Daneben stand ein Gaskocher mit einem
verrußten Kessel,in dem das Wasser für den Tee kochte.In einer
Ecke stapelten sich Holzkisten mit orangefarbener Limonade.
Ich hatte noch nie in einer so erbärmlichen Hütte gesessen.
Es war brütend heiß, der Schweiß lief mir die Schläfen und
den Hals hinab, meine Jeans klebte auf der Haut. Plötzlich stand
der Alte auf und kam auf mich zu.
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»Entschuldigen Sie vielmals, junge Frau, dass ich Sie so einfach
anspreche«, sagte er und setzte sich zu mir. »Es ist sehr unhöflich,
ich weiß, zumal wir uns nicht kennen oder zumindest Sie
mich nicht kennen, nicht einmal flüchtig. Ich heiße U Ba und
habe schon viel von Ihnen gehört, was aber mein Verhalten, ich
gebe es zu, auch nicht höflicher macht. Ich vermute, es ist Ihnen
unangenehm,in einem Teehaus,an einem fremden Ort,in einem
fremden Land von einem Ihnen unbekannten Mann angesprochen
zu werden, und ich habe dafür mehr als Verständnis, aber
ich möchte,oder sollte ich ehrlicher sein und sagen,ich muss Sie
etwas fragen. Ich habe auf diese Gelegenheit zu lange gewartet,
als dass ich nun, da Sie da sind, schweigend vor Ihnen sitzen
könnte.
Vier Jahre habe ich gewartet,um genau zu sein,und oft bin ich
am Nachmittag auf und ab gegangen, dort, an der staubigen
Hauptstraße, wo der Bus ankommt, der die wenigen Touristen
bringt,die sich in unseren Ort verirren.Manchmal,wenn sich die
Gelegenheit ergab, bin ich an den seltenen Tagen, an denen eine
Maschine aus der Hauptstadt landet, zu unserem kleinen Flughafen
gefahren und habe,vergeblich,Ausschau nach Ihnen gehalten.
Sie haben sich Zeit gelassen.
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