Vienna
Eva Menasse
Verlag:
Kiepenheuer und Witsch
Köln
2005
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Autor:
Eva Menasse
Kategorie: Nachdenkliches
»Mein Vater war eine Sturzgeburt«: Kopfüber, wie die Hauptfigur, fällt der Leser in diesen Roman und erlebt, wie die Großmutter über ihrer Bridge-Partie beinahe die Geburt versäumt. So kommt der Vater der Erzählerin zu Hause zur Welt, ruiniert dabei den kostbaren Pelzmantel und verhilft der wortgewaltigen Familie zu einer ihrer beliebtesten Anekdoten. Hier, wo man permanent durcheinander redet und sich selten einig ist, gilt der am meisten, der am lustigsten erzählt. Fragen stellt man besser nicht, obwohl die ungewöhnliche Verbindung der Großeltern, eines Wiener Juden und einer mährischen Katholikin, im zwanzigsten Jahrhundert höchst schicksalsträchtig ist.
Leseprobe
Als die Tante Gustl ihren Vater von ihrer bevorstehenden Heirat unterrichtete, vertraute sie darauf, daß der laute, furchterregende Skandal von einst inzwischen zu einem kleinen, depressiven Zusammenbruch geschrumpft sein würde, denn die Tante Gustl war von Jugend an äußerst abgebrüht. »Is er a Jud?« fragte ihr Vater, und er muß der Tante Gustl in diesem Moment herrlich schwach und hilflos erschienen sein. Sie trug den neuen Fuchs mit den blinkenden Äuglein um die Schultern, den der rasend verliebte Verlobte ihr erst kürzlich verehrt hatte, und sie triumphierte, innen wie außen. »Er is ka Jud, er is a Bankdirektor«, antwortete sie mit einer Wendung, die in meiner Familie sprichwörtlich geworden ist und seither auf Menschen angewendet wird, die man für harmlose Trottel hält. Denn ein solcher war, wie sich bald herausstellte, der herzensgute, jung verstorbene Adolf »Dolly« Königsberger, auch »Königsbee« genannt.
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