Eine "Sage" ist also ein   merkwürdiges Zwischending zwischen einer mündlich erzählten Geschichte, die vom   jeweiligen Erzähler ja auch immer wieder anders erzählt werden kann, und einer   schriftlich niedergelegten Fassung, die dann eine einzige, nun nicht mehr   veränderbare Fassung der Geschichte wiedergibt. 
     
											  Wer ist nun aber der   eigentlich "Autor" der Sage? Der meist namenlose Erzähler aus dem einfachen Volk   oder der gelehrte Sammler, der die Sage druckreif gemacht hat?  
     
											  Die   "Sagen" sehen so aus, als seien es Berichte von wahrhaftig vorgefallenen   Geschichten (s. Beispiele): Der Bursche ist dem Geisterrössl wirklich begegnet:   jedenfalls muss er sich ganz ordentlich davor gefürchtet haben. Und der Mesner   muss offenkundig beteuert haben, dass er die Hexen leibhaftig gesehen habe.   Damals, um das Ende des 19. Jahrhunderts, war ein Mesner ein sehr   vertrauenswürdiger Mann, der keine erlogenen Geschichten erzählte. Natürlich   gibt es keine Hexen, das wissen wir heute. Was kann denn der Mesner (und nicht   nur er!) also gesehen haben?  
     
											  Diese Fragen haben nichts mehr mit den   Sagen selbst zu tun, sondern mit der Erforschung dieser eigenartigen Gattung,   die wir heute halb zur Literatur zählen und halb zu einem Wissenszweig, den man   früher mit "Volkskunde" bezeichnete. Heute sagt man dazu "Ethnologie" (Völkerkunde) oder genauer gesagt "Kultur- Anthrologie"(Wissenschaft zur   Erforschung von kulturellen Referenzsystemen des Menschen).  
											  Und erst heute ist   man sich darüber im Klaren, dass die "Sagen" wertvolle Zeugnisse aus einer Zeit   sind, die anders funktioniert hat. So wie wir heute denken, haben unsere   Vorfahren eben nicht gedacht: auch Weltbilder ändern sich. Das kann man an den   überlieferten Erzählungen genau nachprüfen. Die Sagen, oder "Memorate" wie   die heutige Erzählforschung sie genauer bezeichnet, enthalten keine erfundene   Geschichten, sondern wahre Erlebnisberichte. Es sind also keine literarischen   Erzeugnisse der dichterischen Phantasie, sondern so etwas wie "Nachrichten" aus   einer Welt, die ein vorwissenschaftliches Referenzsystem hat.  
                                                 
                                                Unser   heutiges Weltbild beruht auf der sogenannten "Lesbarkeit der Welt", d.h. wir   sind davon überzeugt, dass der gesamte Kosmos, auch sehr schwer erklärbare   Phänomene, nach naturwissenschaftlich untersuchten, objektiv nachgewiesenen   Gesetzmäßigkeiten abläuft. Dementsprechend wissen wir, dass der ganze   Geisterspuk der Sagen kompletter Unsinn ist; aber das wissen wir erst   heute. 
                                                 
                                                Das vorwissenschaftliche Weltbild sieht hingegen hinter und   jenseits der sichtbaren Welt eine geistige Dimension am Werk: das Mittelalter   war fest in der christlichen Glaubenslehre verankert und hielt den biblischen   Schöpfungsbericht für "wahr". Da glaubte man zwar an Geister und Hexen, aber das   Vertrauen in die allumfassende Güte und die unvorstellbare Kraft Gottes war so   groß, dass man sich im Schutz christlicher Symbole (z.B. dem Läuten der   Kirchenglocken) sicher fühlte.  
											  Große Probleme traten erst auf, als das Weltbild   der unbedingten Gottesnähe ins Wanken geriet (Ende des 13. Jahrhunderts), die   Einsicht in das moderne, naturwissenschaftliche Weltbild (ab dem späten 17.   Jahrhundert) aber noch nicht durchgesetzt war. Aus dieser Krisenzeit   (Renaissance, Barock) stammen vermutlich die meisten der heute bekannten Sagen.											    |