Paula Wiesinger war eine der besten Bergsteigerinnen und Skiläuferinnen   ihrer Zeit. In den dreißiger Jahren durchstieg sie mit den damals   renommiertesten Bergsteigern die schwierigsten Wände der Dolomiten und Alpen.   Kaum eine andere ihrer Zeitgenossinnen konnte den sechsten (und damals höchsten)   Schwierigkeitsgrad als Seilerste und mit solcher Sicherheit klettern. 
											   
											  Im   Laufe ihres langen, abenteuerlichen Lebens lernte sie viele bekannte   Persönlichkeiten kennen: von den schon anerkannten Bergsteigern, die in ihrer   näheren Umgebung lebten, wie Batista Vinatzer aus Gröden, zu den prominenten   Bergsteigern im Ausland wie Anderl Heckmaier oder Heinrich Harrer, den   Erstbesteigern der Eiger-Nordwand, oder ihren Konkurrentinnen im Skirennlauf   Ofelia Zardini und Livia Bertolini, bis hin zu illustren Persönlichkeiten wie   König Albert von Belgien. 
											   
											  Paula Wiesinger wurde am 27. Februar 1907 in   Bozen geboren. Sie war die älteste von fünf Geschwistern. An ihren Vater, der im   Ersten Weltkrieg gefallen war, konnte sie sich nicht erinnern, und nachdem ihre   Mutter nach Sterzing gezogen war, wo sie als Köchin arbeitete, lebte Paula bei   ihren Großeltern in Bozen. Anlässlich ihrer häufigen Besuche bei der Mutter in   Sterzing fing sie mit dem Bergsteigen und Skifahren an. Damals war sie sechzehn.   Ihre Begleiter waren junge Polizisten der Grenzmiliz – unter ihnen auch der   später berühmte Gino Soldà aus Recoaro. Mit ihm und anderen Bergsteigern bestieg   sie so ziemlich alle Gipfel des Grenzgebietes um den Brenner. Da Paula Wiesinger   keinen Vater hatte und auch nicht unter der ständigen Kontrolle ihrer Mutter   lebte, genoss sie eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Freiheit für eine   junge Frau ihres Alters. Sie selbst meinte, das sei ihr Glück gewesen, weil sie   immer das tun konnte, was sie wollte.  
											  Sie kletterte immer nur in Begleitung   von Männern, nie mit Frauen, aber nicht etwa, weil sie nicht mit Frauen klettern   wollte, sondern weil es sich einfach nie ergab. Tatsächlich gab es damals weit   und breit keine einzige Frau, die auch nur annähernd so gut klettern konnte wie   Paula. 
											   
											  Sie erzählte, wie sie einmal mit Freunden von einer Tour auf die   Marmolada zurückkehrte und wie sie, als sie die Civetta in der Abendsonne sah,   nicht mehr nach Hause gehen wollte, weil sie wusste, dass Hans Steger, ihr   zukünftiger Ehemann, dort in der Gegend der Civetta war. Er hatte ihr eine Karte   geschrieben und sie aufgefordert, zu ihm zu kommen. Allein und zu Fuß begab sie   sich also zur Coldai-Hütte, aber nachdem sie ihn dort nicht fand, setzte sie   ihren Weg bis zum weiter weg gelegenen Pelmo fort, wo sich die beiden   schließlich trafen, um am darauf folgenden Tag die Pelmo-Nordwand als zweite   Seilschaft zu besteigen. 
											   
											  Gemeinsam kletterten Paula und Hans Steger in   den folgenden Jahren die damals schwierigsten Routen der Dolomiten. 1928 gelang   ihnen die Erstbegehung des Nordpfeilers des Einserkofels über den bekannten Weg   der Jugend. Weitere Erstbesteigungen sind die Winklerturm-Südwand (1929), die   direkte Ostwand der Rosengartenspitze (1929), die Südwand an der Punta Emma im   Rosengartenmassiv (1929) und am Schlern, Burgstall, die Ostwand Pfeilerrisse   (1929). Außerdem sind ihnen die vierte Begehung des Südpfeilers der Marmolada   und die Nordwand des Zwölferkofels als zweite Begehung zuzuschreiben. Einige   dieser Wände und viele andere durchstieg Paula mehrmals, so zum Beispiel die   Civetta oder die Vajolett-Türme, die sie über 30 Mal überschritt. 
											   
											  Paula   Stegers Vorliebe beim Klettern waren Risse und Kamine. Sie war eine der wenigen   Frauen ihrer Zeit, die einen sechsten Grad nicht nur klettern, sondern auch   souverän führen konnten. Doch bewies sie beim Klettern nicht nur Können, sondern   auch eine außerordentliche Ausdauer, Nervenstärke und Geistesgegenwart. Einmal   wurde sie mit zwei Begleitern in der Marmolada-Südwand vom Wetter überrascht.   Einer von ihnen, der Seilerste, wurde vom Blitz getroffen. Sie betreute und   massierte ihn, um ihn vor Unterkühlung zu bewahren, bis er sich einigermaßen vom   Schock erholt hatte. Nach einer im Biwak verbrachten Nacht gelang es ihr und dem   Dritten in der Seilschaft, den Verletzten auf eine höher gelegene Terrasse zu   schleppen, wo die Seilschaft ein zweites Mal biwakieren musste. Am dritten Tag   war der Fels von Eis und Schnee bedeckt, sie kamen nur mühsam weiter, auch der   Seildritte wurde von Schwäche befallen und, da sie eine weitere Nacht in der   Wand nicht überlebt hätten, sicherte Paula ihre Begleiter so gut sie konnte an   die Felswand, um allein aufzusteigen und Hilfe zu holen. Am Gipfel traf sie den   Bergführer Tita Piaz aus dem Fassatal, der bereits eine Rettungsaktion   eingeleitet hatte. Die beiden erschöpften Männer mussten ob ihrer Verletzungen   und Erfrierungen zwei Monate im Krankenhaus verbringen, Paula hingegen kam um   zwei Uhr morgens in Bozen an und war um acht Uhr wieder bei der   Arbeit. 
											   
											  Ausdauer und keine Zimperlichkeit zeigte die Spitzenbergsteigerin   auch, als sie an einem von Leni Riefenstahls Filmen als Stuntwoman mitwirkte und   dabei über eine steile Geröllhalde stürzen musste. Jahre später erinnerte sie   sich daran mit folgenden Worten: „Die Riefenstahl wollte keine blauen und grünen   Flecken abkriegen, aber mir war das egal.“ Ihr schlanker Körper war so gut   durchtrainiert, dass sie von einem solchen Sturz vermutlich gar nicht allzu   viele blaue Flecken abkriegen konnte. Sie war so kräftig, dass sie angeblich mit   einer Hand sieben Klimmzüge nacheinander machen konnte, indem sie sich nur am   Türstock festhielt. 
											   
											  Paula und Hans Steger wurden bald über die Grenzen   hinaus als hervorragende Bergsteiger bekannt. So kam es, dass König Albert von   Belgien sie als Bergführer engagierte. Aus der Bergführer-Gast-Beziehung   entstand eine langjährige Freundschaft. Paulas Beteiligung an den Bergtouren   wurde von dem belgischen König aber auch deshalb gewünscht, weil er dadurch   seine Bergtouren – die vielfach als zu gefährlich mit Argwohn betrachtetet   wurden – nach außen hin mit der Begründung rechtfertigen konnte, sie seien   unbedenklich, weil „sogar ein Mädchen im Stande war mitzugehen“. Dass dieses   Mädchen aber eine der besten Bergsteigerinnen ihrer Zeit war und mehr Mut und   Erfahrung hatte als die meisten Männer, die kletterten, war damals nur in   Bergsteigerkreisen bekannt. 
											   
											  Auch das Skifahren war in den zwanziger und   dreißiger Jahren noch keinesfalls ein Massensport wie heute. Die wenigen   einheimischen Skifahrerinnen wurden eher skeptisch beäugt. Wenn sich Paula zum   Skifahren auf den nahen Ritten oder nach Gröden begab, musste sie zu Fuß gehen   und die Skier auf den Schultern tragen: Das Geld für ein Verkehrsmittel hatte   sie nicht. So ging sie mehrmals zu Fuß bis nach Cortina, Misurina und auf den   Tre-Croci-Pass. Einmal konnte sie nach einem langen Fußmarsch in Cortina keinen   Schlafplatz finden. Sie war so müde, dass ihr während des Essens im Gasthaus, wo   sie eingekehrt war, die Augen zufielen. Einem Angestellten tat sie so leid, dass   er ihr sein Schlaflager unter der Treppe überließ. 
											   
											  1932 wurde Paula   Steger die erste Weltmeisterin des Skiclubs Gröden: Vor 33 internationalen   Konkurrentinnen gewann sie die Weltmeisterschaftsabfahrt in Cortina. Zwischen   1931 und 1936 erlangte sie in Slalom, Abfahrt und Kombination 15 italienische   Titel. Ihr Trainer war ihr Mann Hans Steger, finanziert wurde sie von Hulda Jane   Tutino, einer wohlhabenden Amerikanerin, die in Wolkenstein lebte und mit dem   Bergführer Ferdinand Glück kletterte. In Roccaraso gewann sie ein   Meisterschaftsrennen mit einer Minute und sieben Sekunden Vorsprung: Statt die   zu überwindenden Mauern durch eigens vorgesehene Gatter zu bewältigen, sprang   sie als Einzige einfach darüber. Sie ging als „die Paula“ oder „la Paula“ in die   Geschichte des Skirennlaufs ein. 
											   
											  1935 wurde sie zum Trofeo Mezzalama,   einem 45 km langen Skitourenwettlauf zwischen Matterhorn und Monte Rosa,   eingeladen – als Zuschauerin, wohl gemerkt, denn Frauen durften daran nicht   teilnehmen. Als aber der Athlet Giusto Gervasutti das Rennen wegen einer   Verletzung aufgeben musste, zog sich Paula sogleich seine Uniform an, versteckte   sich hinter Brille und Mütze und ging statt seiner weiter. An einem   Kontrollpunkt flog der Schwindel jedoch auf und sie wurde   disqualifiziert. 
											   
											  Neben ihrer Tätigkeit als Sportlerin war Paula Wiesinger   Steger viele Jahre lang Wirtin des Hotels Steger-Dellai auf der Seiser Alm. Nach   dem Tod ihres Mannes führte sie den Betrieb weiter bis ins hohe Alter. Sie war   stets optimistisch und äußerst vital. Die Arbeit, meinte sie, sei ihr „Tirami   sù“ (italienische Süßspeise, wörtliche Übersetzung „Zieh mich hoch“).  
											  Sie   starb am 11. Juni 2001 im Alter von 94 Jahren.  
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