  
                                                Anna   Knittel 
                                              Was Andreas Hofer unter den Männern für die TirolerInnen ist, ist   ihnen die Geierwally unter den Frauen – eine Identifikationsfigur, ein Weibsbild   mit Eigenschaften, wie sie nur die besten Mannsbilder des Alpenvolkes vorweisen,   eine Unbeugsame, die selbst den Berggeistern trotzt, dem Murzoll und seinen   Töchtern, den saligen Fräuleins. Und – weil sie eben eine Frau ist und kein Mann   – respektheischend, ja gefährlich. 
                                                 
                                                Zur Schaffung des Heldinnenbildes   gingen bei ihr – wie so oft – Wirklichkeit und Fiktion eine Verbindung ein, die   nachträglich schwer zu lösen ist. Dabei war die „wahre“ Geierwally, Anna   Stainer-Knittel aus dem Lechtal, eine Frau, die der Mythologisierung nicht   bedurft hätte: Vielleicht ist sie zum Mythos geworden, weil sie ihr Leben   bewusst gelebt hat, selbstbestimmt und eigenwillig. Die Natur, vor der   BergbewohnerInnen ansonsten oft bangen, machte ihr keine Angst. 
                                                 
                                                Anna   Knittel wurde am 28. Juli 1841 in Elbigenalp im Lechtal geboren, sie war die   Tochter eines Büchsenmachers, eine Großnichte des damals bekannten Malers Joseph   Anton Koch. Ihre oft boshaften, aber treffenden Karikaturen ihrer   MitschülerInnen zeigten schon früh, dass auch sie zeichnerisches Talent hatte.   Berühmt wurde sie zunächst aber durch eine „Mutprobe“, die so gut gelang, dass   sie sie wiederholte:  
                                                In einer Zeit, da man den Adlern – Geier nannte man sie   damals abschätzig – nachstellte, weil sie junge Lämmer rissen, schlüpfte sie   kurzerhand in die Lederhosen des Bruders und seilte sich an steiler Wand in die   Tiefe, um einen Adlerhorst auszunehmen. Kein Mann des Dorfes hatte sich zu   diesem Wagnis bereit erklärt, ihr Bruder war bereits vor ihr schon einmal sieben   Stunden im Seil gehangen und hatte wenig Lust, dies ein zweites Mal zu tun. So   übernahm sie es, die jungen Adler zu holen, sie großzuziehen und später auf   einem Jahrmarkt zu verkaufen: Im Jahre 1863 ein Unternehmen, das man einer Frau   nicht bzw. nur sehr ungern zutraute. 
                                                 
                                                Schon kurz darauf verpackte der   bayrische Reiseschriftsteller Ludwig von Steub die Heldentat in eine   literarische Erzählung, und der Lyriker Anton Renk nannte Anna Knittel   „Brunhilde vom Lechtal“. 
                                                 
                                                Als schließlich – 12 Jahre nach dem Ereignis –   der Roman „Die Geierwally“ erschien, konnte kein Theaterstück, kein Film mehr   korrigieren, was die Bestsellerautorin Wilhelmine von Hillern für ihre   Geschichte zurechtgebogen hatte: Aus der Anna ist eine Walburga geworden, aus   der Tochter eines Büchsenmachers die Tochter eines Bauern, aus dem Lechtal das   sagenumwobene Ötztal. 
                                                 
                                                Zugegeben, Anna Knittel hatte selbst ein wenig für   Werbung gesorgt, als sie ein Selbstbildnis ins Schaufenster ihres Souvenirladens   stellte, das sie beim Ausnehmen des Adlerhorstes zeigt. Die Schriftstellerin   Wilhelmine von Hillern hatte dieses Bild im Vorbeigehen gesehen und war gleich   Feuer und Flamme: War ihr die Geierwally doch auch so etwas wie ein ganz   persönliches Emanzipationsstück: Sie konnte sich freischwimmen von ihrer Mutter,   der Bestseller-Autorin Charlotte Birch-Pfeiffer und von einer Gesellschaft, die   sie gezwungen hatte, ein uneheliches Kind zu verheimlichen. 
                                                 
„’s is   das schönste und stärkste Madel in Tirol“, erzählte der Gemsjäger, “aber spröd   wie a wilde Katz – die Buab’n lassen sich von ihr heimjagen, daß es a wahre   Schand is. Freili kann sie nix dafür: der Vater hat das Madel lasterhaft viel   geschlagen und aufzog‘n wie’n Buab’n.“ (aus: Wilhelmine von Hillern, Die   Geierwally) 
 
Als Anna Knittel 1863 den Adlerhorst ausnahm, war sie bereits   Studentin in München und hatte sich den für eine Frau vorgesehenen Aufgaben   entzogen. Nachdem sie schon als Kind ihr zeichnerisches Talent bewiesen hatte,   ihr dies von dem einen und anderen Experten auch bestätigt worden war, hatte sie   sich durchgesetzt und war „in die weite Welt“ nach München gezogen. 
 
Wohl   besuchte Anna Knittel nicht die staatliche Kunstakademie, da diese bis 1920   allen weiblichen Studierenden verschlossen war, ging aber als „allererstes   Frauenzimmer unter lauter Männern“, wie sie stolz in ihrem Tagebuch vermerkt,   auf eine private akademische Vorschule. 
 
Als es ihr – nach der Rückkehr –   im Lechtal zu eng wurde und das Landesmuseum Ferdinandeum ihr ein Selbstbildnis   in Tiroler Tracht abkaufte, zog sie kurzerhand nach Innsbruck, um ihr eigenes   Geld zu verdienen. Das würde sie zeitlebens tun, auch als Mutter von vier   Kindern: Den Gatten, den Gipsformator Engelbert Stainer, hatte sie gegen den   Willen des Vaters geheiratet, er hatte ein uneheliches Kind mit zu   versorgen. 
 
Berühmt wurde sie vor allem für ihre Öl-Landschaften und   Blumenbilder; von den Touristen wurden sie ihr fast aus der Hand gerissen. Nach   eigenen Angaben malte sie aber auch an die 130 Porträts: darunter die von   Erzherzog Karl Ludwig, Feldmarschall Radetzky und Kaiser Franz Joseph I. –   signiert hat sie sie immer mit ihrem Mädchennamen. Als die Fotografie die   Porträts verdrängte, spezialisierte sie sich auf Blumenbilder, die sie bis zu   ihrem Tode malte, und konzentrierte sich im Übrigen auf ihre Zeichenschule für   Mädchen. Aufsehen erregte sie, als sie sich die Haare kurz schneiden   ließ. 
 
1873 war Anna Stainer Knittel mit dem Ölbild Alpenblumenkranz auf   der Wiener Weltausstellung vertreten, für 40 Pfund Sterling wurde es nach   England verkauft. Am 28. Februar 1915 starb sie im Hause ihres Sohnes Dr. Karl   Stainer in Wattens nach einer nicht ganz ausgeheilten   Lungenentzündung. 
 
„Und weiter erzählte der Tiroler dem Fremden: die   Mädchengestalt, die sich dort oben gegen den Himmel abzeichne, heiße Walburga   Strommingerin, aber man nenne sie auch die Geierwally. Und wahrhaftig, sie   verdiente diesen Namen: Denn schrankenlos war ihr Mut und ihre Kraft – als hätte   sie Adlersfittiche. Schroff und unzugänglich ihr Sinn, wie die scharfkantigen   Felsspitzen, an denen die Geier nisten und die Wolken des Himmels   zerreißen.“ (aus: Wilhelmine von Hillern, Die Geierwally) 
 
Als   Geierwally wurde Anna Stainer Knittel unsterblich: Unzählige Male wurde der   Romanstoff für das Theater adaptiert, der Roman selbst wurde in elf Sprachen   übersetzt und dreimal verfilmt – unter anderem als naturalistische Blut- und   Boden-Geschichte, als Propagandafilm mit allen Bewohnern des Dorfes Längenfeld   und der Luis-Trenker-Entdeckung Heidemarie Hatheyer. 
 
Als Opernheldin La   Wally verhalf die Wilde aus Tirol dem Komponisten Alfredo Catalani – einem   Zeitgenossen Puccinis – zu seinem einzigen wirklichen Triumph: Entsprechend dem   Genre ist Wally am Ende nicht glücklich vereint mit ihrem Geliebten, sondern   springt ihm – der von einer Lawine in die Tiefe gerissen wird – in den Tod   nach. 
 
Die berühmteste Arie aus der Catalani-Oper diente in nahezu 20   Filmen als Filmmusik, eine zentrale Rolle fällt ihr in dem französischen   Kultfilm Diva von Beinix (1981) zu. Lange bedient sich auch schon die   Tirolwerbung der wilden Geierwally: Sie steht über der Angst, die die Menschen   in diesen Gegenden seit jeher zwingt, mit allerlei Mythen das Überleben zu   beschwören. Auch wenn Mythos und Fiktion bald schon die Realität überwucherten,   haben sie doch immerhin die Erinnerung an Anna Knittel, die wahre Geierwally,   erhalten.  
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